UMWELTATLAS HAMBURG


STADT UND LANDSCHAFT

Kapitelende

1.2 Landgewinnung und Eindeichungen

Seit mindestens 25 Jahren ist umstritten, ob das Sturmflutschutzkonzept tatsächlich Probleme löst oder tatsächlich ganz neue schafft. 1987 wurden die Ergebnisse eines Gutachtens bekannt, die der staunenden Öffentlichkeit zur Kenntnis gaben, daß Hamburgs Sü den ein unangemessen hohes Sturmflutrisiko zu tragen hat. Die Sturmflutmauern im Hafen müßten (von 7,5 m) auf ca. 9 m erhöht werden: der in Hamburg so beliebte sonntägliche Spaziergang am nördlichen Hafenrand würde, wenigstens Richtung Süden, von Assoziationen eines Gefängnis-Hofganges begleitet werden. 

Es ist wie verhext: da gibt es von Anfang an einfache und plausible Ansätze, derartige Probleme zu vermeiden und trotzdem wird mit einer verbissenen Hartnäckigkeit an alten Vorstellungen festgehalten. 

Warum ist das so?

Rückblickende Betrachtungen über die Entwicklungen in der Unterelberegion enden meistens bei der großen Sturmflut von 1962. Als ob die Geschichte der Region, ihrer Menschen, ihrer Kultur nicht sehr viel älter wäre. Die Sturmflut 1962 war eine von vielen katastrophalen Fluten der letzten 800 Jahre... 

Wie fing es an?

Die Erstbesiedlung der Marschen an der Unterelbe wird kurz vor der Zeitenwende datiert, als eine geringe Senkung des Meeresspiegels eintrat, die Watten trockenfielen und sich begrünten (Anm 1). Zunächst kamen die sog. Chauken, dann die Sachsen. Sie lie:ßen sich in den elbnahen, fruchtbaren Hochländern (im vgl. zu den tiefer liegenden Sietländern am Geestrand) nieder (Anm 2). Im 1.Jhrh n. Chr. stieg der Meeresspiegel wieder an, gleichzeitig sanken die Marschen wegen des weichen Untergrundes, so daß Schutzmaß nahmen fällig wurden. So entstanden im 3. und 4. Jahrhundert die Wurten (oder Warften) und wurden nach und nach erhöht. Aufgrund erneu:ten Wasseranstiegs und Versalzung der Böden ging während ca. zwei Jahrhunderten die Bevölkerung zurück. Im 7. und 8. Jahr hundert begann dann die Wiederbesiedlung der Warften, die bis zum heutigen Tag nicht mehr unterbrochen wurde. Die ältesten Siedlungen sind häufig an der Endung "worth" oder "wörden" erkennbar. 

Die vergleichsweise intensive Kolonisation der Unterelbmarschen ging auf die Initiative der Kirchen- und Landesfürsten zurück. Kolonisten waren, neben der in der Geest lebenden lokalen Bevölkerung, vor allem die Holländer, die besonders tiefgreifende Lands chaftsveränderungen und soziale und wirtschaftliche Veränderungen bewirkten. Die sog. Hollerkolonisation hatte nicht nur prägenden Einfluß auf die landeskulturelle Entwicklung (von Vieh- auf Ackerwirtschaft), sondern brachte auch Veränderungen im Rechtswes en (z.B. Hollisches Deichrecht), in der Sprache und in der Landesverfassung mit sich. 

Erst wurden Ringdeiche um die großen Wurten/Warften gelegt. Dann ganze Kirchspiele umdeicht. Die Eindeichungen entlang der Elbe und der Nebenflüsse begannen Anfang des 12. Jh. So von Altengamme und Curslack 1158, von Neuengamme um 1212, Kirchenwerder 1217, Ochsenwerder 1254, Tatenberg und Billhorn um 1319. Diese Eindeichungen, zusammen mit den durchgeführten Entwässerungsmaßnahmen, ermöglichten eine für damalige Zeit intensive ackerbauliche Nutzung, die innerhalb eines Jahrhunderts zu einer wirtschaftlichen Blüte der Marschen führte. Das gewonnene Land wurde nach dem Muster der Holländer in schmale lange Stücke, die von Entwässerungsgräben getrennt waren, aufgeteilt. Die Siedlungen wurden in linearer Anordnung angelegt, die einen optimalen Zugang der Bauern zu den Wirtschaftsflächen ermöglichten (Marschhufensiedlung). Weit später im 16. und 17. Jh. wurden die Sommerdeiche gebaut, diese ermöglichten die Beweidung des Deichvorlandes. 

Der ganze Landgewinnungsvorgang dauerte also mehrere Jahrhunderte. Die Menschen wurden immer wieder mit den Naturgewalten konfrontiert. Denn trotz Deichbau war das Unterelbegebiet nie sturmflutsicher. Die Deiche waren relativ niedrig und wegen des weichen Untergrundes, bei starker Belastung sehr gefährdet (Grundbrüche !). Bis zur großen Sturmflut von Februar 1962, gab es dennoch eine lange Phase von über 100 Jahren, in der keine sehr hohen Sturmfluten an der Unterelbe zu verzeichnen waren. Die letzten große n Fluten waren 1825 (+ 5,24 m NN in St. Pauli) und 1855 (+ 5.11 m NN in St. Pauli). Als dann am 17. Feb. 1962 der Pegel in St. Pauli + 5,70 m NN erreichte, dies trotz mehrerer Deichbrüche und entsprechender Verteilung des Wassers in der Fläche, und katastrophale Schäden in Hamburg und an der Unterelbe anrichtete (allein an Menschenleben waren 314 Opfer zu verzeichnen), war die Rede von der "Jahrhundertflut" in aller Munde. 

Eine "Jahrhundertflut" jagt die nächste...

Diese Sturmflut soll die letzte gewesen sein, welche die Unterelbe unter Wasser setzt ! So oder so ähnlich müssen die Deichbauer und Betonfetischisten damals gedacht haben, als sie die Pläne für neue Küstenschutzkonzepte entwarfen. Man wollte ein für allem al die Sturmfluten in den Griff bekommen, und so wurde eingedeicht, gesperrt und nochmals eingedeicht.

Insgesamt wurde die Deichlinie von 1.200 Kilometer im Jahre 1962 auf ganze 602 km bis 1979 verringert. Wertvolles Vordeichland, die potentiellen Überflutungsräume bei Hochwasser und Sturmflut, verschwanden hinter den neuen Deichen. Um 75 Prozent nahmen die se Überflutungsflächen ab: In Schleswig-Holstein von 197 auf 49 km2 , in Niedersachsen von 139 auf 33 km2. Die alten Nebenarme der Elbe wurden dicht gemacht: Kein Hochwasser kann heute mehr in die Alte Süderelbe, den Rutherstrom, die Wischhafener Süderelbe , die Haseldorfer Binnenelbe oder die Wedeler Au einfließen. Doch damit nicht genug: Sämtliche Nebenflüsse der Unterelbe wie Stör, Krückau, Pinnau, Oste, Schwinge, Lühe, Este und das Freiburger Hafenpriel wurden mit Sperrwerken versehen, die bei Sturmflutg efahr geschlossen werden. Konsequent wurde ein Fluß zu einem Kanal verstümmelt. 

Seit 1945 wurde außerdem die Fahrrinne dreimal vertieft (die vierte Runde steht bald an). Mit dem ausgebaggerten Sand wurden Elbinseln angelegt und vergrößert, so daß wertvolle Süßwasserwatten zusätzlich verloren gingen. "Die dem Fahrwasser zugekehrten Ufe r sind heute fast in der gesamten Länge der Unterelbe durch Steinschüttungen sowie Kaimauern im Bereich von Kraftwerken und Industrieanlagen befestigt, so daß Schlickufer, Sandstrände und Schilfgürtel die Ausnahme bilden. Obwohl die Unterelbe an vielen Ste llen immer noch von optisch imposanter Breite ist, bedeuten diese Strombaumaßnahmen eine fortschreitende Kanalisierung." (Enquete-Kommission Unterelbe) 

Durch die Kanalisierung und Ausbaggerung verstärkte sich der Tidenhub am Pegel St. Pauli zwischen 1850 und 1980 um 1,5 auf 3,5 Meter, und die möglichen Sturmflutwellen erreichen nun Hamburg weitaus schneller und heftiger als in den vergangenen Jahren. Durc h die Verringerung der Reibung des Wassers ist es zu einer Beschleunigung der Tidewelle gekommen. Sie benötigt heute von Cuxhaven nach St. Pauli nur noch drei Stunden und vierzig Minuten, zwanzig Minuten weniger als bei der großen Flut von 1962. 

Und die Sturmflutsicherheit ? Schon 1976, als die neue Deichlinie noch nicht ganz fertig war, trat wieder eine "Jahrhundertflut" ein, die einen noch höheren Pegel entlang der Unterelbe erreichte (in St. Pauli + 6,45 m NN), dann 1981 mit + 5,80 m NN, dann.. . Bis heute ist keine Obergrenze für die Sturmflutscheitel bekannt bzw. voraussagbar. Die drei Faktoren, die eine Sturmflut bedingen (Fernwelle aus dem Atlantik, maximaler Windstau und Springtide) sind nie gleichzeitig aufgetreten, so daß die "höchstmöglic he Sturmflut" (also die "Jahrtausendsturmflut") noch nicht vorgekommen ist. 

Die Ergebnisse des eingangs genannten Gutachtens haben in Hamburg für Unruhe gesorgt. Denn in der Tat waren die früheren Modelluntersuchungen über die Folgen des Elbe-Ausbaus nicht verläßlich. Hamburg wähnte sich in Sicherheit, die von den Fakten (Sturmflu ten) und den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen jäh beendet wurde. Für einen bürokratischen Moloch wie die Baubehörde reagierte man schnell und beschloß Deicherhöhungen (was sonst?). Das sog. 180 Mio-Programm sah die Stabilisierung und Erhöhung beson ders gefährdeter Erddeiche vor (ca. 60 Deichkilometer um 50 - 80 cm). In der Zwischenzeit sind einige Deichkilometer in den Vier- und Marschlanden und in Harburg auf 8,06 bis 8,39 m erhöht worden Doch das Programm greift nur, wo die städtebaulichen und räu mlichen Bedingungen keine großen Einschränkungen auferlegen (also wo Platz für die Verbreiterung des Deichfußes ist und die Deichhöhe nicht als "Mauer" negative Folgen für das Stadtbild hat). Langfristig gesehen reichen diese Maßnahmen ohnehin nicht aus. 

Also wurde eine "Unabhängige Kommission Sturmfluten" berufen. Über einen Zeitraum von über drei Jahren befaßte sie sich mit der Problematik und ihrer möglichen langfristigen Lösungen. Im Juni 1989 hat sie die Ergebnisse vorgelegt. Sie mußten allerdings ers t von der Baubehörde intensiv geprüft werden (ca. 15 Monate), bevor der Senat und die Öffentlichkeit die Chance hatten, sich mit den Empfehlungen zu befassen. Die Ursache für die intensive Prüfung war, daß die Kommission nicht ein einheitliches Votum für d ie langfristige Lösung des Problems abgegeben hatte. Die Betonfraktion will ein Sperrwerk, die andere (hauptsächlich die Parteienvertreter und der Hafenvertreter) war für die "weiche Lösung". Sie sieht die Erhöhung und Sicherung der Deiche auf einen Bemess ungswasserstand von 7,30 m in St. Pauli (dazu kommen die Sicherheitszuschläge, die je nach Lage variieren) und die Schaffung von Poldern entlang der Unterelbe vor. 

Beide Konzepte bringen erhebliche Probleme mit sich: Ein Sperrwerk in den erforderlichen Dimensionen gibt es bislang nirgends und wäre ziemlich teuer und schwer durchzusetzen. Die sog. "weiche" Lösung bleibt bei der Berücksichtigung ökologischer Belange au f halber Strecke. Sie ist außerdem auch nicht leicht durchsetzbar und ebenfalls teuer.


Abb. 1.2.2 Deichprofil früher und heute

Gibt es überhaupt Alternativen?

"Wer nicht will deichen, muß weichen" lautet eine in Norddeutschland sehr bekannte Volksweisheit. Was damals recht war, kann heute nicht falsch sein, oder? Angesichts von Klimakatastrophe und menschengemachten Sturmflutgefahren in der Unterelbe, kann die L ösung nicht in der Fortsetzung der bisherigen technokratischen Landgewinnungpolitik liegen. Der einst artenreichste Fluß Deutschlands ist zu einem Schiffahrts- und Abwasserkanal degradiert worden. Eine wirkliche Alternative kann nur darin bestehen, die Maß nahmen zur Minderung der Sturmflutgefahr mit denen der Wiederherstellung der ökologischen Qualität der Elbe zu verknüpfen. Die Überlegung von Naturschützern, die vom PIK in Rahmen seines Projektes "Sanierung der Unterelberegion" aufgegriffen wurde, ist, di e Deichlinie auf eine optimierte alte Deichlinie zurückbauen. Die "Rückdeichung" bedeutet nicht die Menschen in Gefahr zu bringen, sondern umgekehrt. Sie bedeutet aber eine Verabschiedung von der alles-beherrschen-wollen Küstenschutz-Politik. Die Rückdeich ung ist sicher auch nicht billig und leicht durchzusetzen, aber die Sanierung ökologischer Schäden ist überall eine teure Angelegenheit und wird bekanntermaßen immer teurer je weiter man die Maßnahmen in die ferne Zukunft schiebt. 

Icìar Oquiñena 

Verein zur Förderung von Wissenschaft und Umwelt in der Küstenregion e.V. (ehem. Planungsinstitut Küstenregion PIK) 

Erstellt März 1992


Ergänzung

Tidewelle im Längsverlauf, Modell Universität Hamburg

Bewegung der Salzgrenze mit der Tide, Modell universität Hamburg

Update und Ergänzung Juli 2002, Klaus Baumgardt


Literatur:

  • Helm, G.: Land hinterm Deich:Haseldorfer und Wedeler Marsch; Hamburg 1986
  • Völksen, G.: Die Marschen an der Unterelbe; Hrsg. Nds. Min. des Innern, Aktuelle Themen zur niedersächsischen Landeskunde, Heft 5, Hannover 1988
  • Storm, Theodor: "Der Schimmelreiter"
  • Detlefsen, D.: Die Geschichte der holsteinischen Elbmarschen; 2 Bände, Glückstadt 1891. Neudruck Kiel 1976
  • Planungsinstitut Küstenregion e.V.: Sanierung der Unterelberegion, 1.Arbeitsbericht; Hamburg 1988
  • Sanierung der Unterelberegion, Modellüberlegungen zur Rückdeichung Wedeler/Haseldorfer Marsch; 2.Arbeitsbericht", Hamburg 1989

Download Elbekarte mit Wasserzonen als Arcview-Shapes und .tif  (mit Arcexplorer 2 Projekt), mit Zip gepackt kByte

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